Liebe Autorin, lieber Autor,
ich bin Mitglied mehrerer Literaturvereinigungen, und das Problem des Kritikers – wie sage ich es meinem Kinde? – ist von der Art wie die Quadratur des Kreises. Klammern wir uns also hoffnungsvoll an das Wort konstruktive Kritik. Es gibt tatsächlich kein besseres, aber wie gehen wir in der Praxis damit um? Ich möchte hier bei der schwierigen Situation einer Lesung unter Autoren oder mit literarischen Debütanten einen Augenblick verweilen. Daraus lassen sich auch Lehren für eine schriftliche Kritik durch Leser nach der Lektüre eines Buches ziehen.
Wir können alle voneinander lernen! Wer diesen Spruch beherzigt, nicht nur duldet, hilft mit, eine Vertrauensbasis unter Gleichen zu schaffen. Kritik ist nicht dem Verdacht der Herabwürdigung ausgesetzt. Es ist richtig: Ein literarisches Werk, wie jedes Kunstwerk, ist auch eine Frage des Geschmacks, und nicht nur das - auch der Reife. Wer in seiner Jugend Hemingway verehrt, mag sich später vielleicht Kafka zuwenden. Schon beim Genre mögen sich die Geister teilen: Nicht jedermann kann der Lyrik etwas abgewinnen, und die Phase der Kinder- und Jugendbücher hat man längst hinter sich gelassen. Wie Sex und Eros angepackt werden, deftig oder subtil, darf auch – im Prinzip! der persönlichen Einschätzung überlassen bleiben. Wem in fremdem Milieu die Kompetenz abgeht, sollte sich mit Kritik zurückhalten. Nicht kritikwürdig finde ich Bücher, die in penetranter Weise politische, religiöse oder sexuelle Themen behandeln. Bekennerliteratur, anklagend, aggressiv, herabsetzend, ist keine Literatur für unseren Geschmack sondern für Ideologen. Man kann über alles schreiben, aber dann mit literarischen Mitteln. Um der Politik eines auszuwischen, hat sich allemal die Ironie bewährt.
Um ein Werk in einer Lesung überhaupt kompetent zu würdigen, ist der Vortrag von eminenter Bedeutung. Stimme, Mimik, Gestik können auch aus einem schwächeren Werk noch einiges herausholen. Das Umgekehrte gilt leider auch. Der Kritiker muß also angestrengt bei der Sache sein, um nicht vom Schein überrumpelt zu werden. Am Ende kommt der Applaus, kräftig oder dünn. Trotz merklicher sprachlicher Schwächen spürt der Zuhörer sofort, ob an der Geschichte etwas dran ist: Spannung, Originalität, Witz, Überraschung, Atmosphäre. Aus dem Werk läßt sich also etwas machen, und hier greift die konstruktive Kritik an den Schwächen ein. Der Profi hat es hinter sich: logische Brüche; nutzloses, schwächendes Beiwerk; Häufung synonymer Adjektive, entbehrliche Füllwörter, holpriger Satzfluß; Relativsätze; daß, daß, daß und ob, ob, ob und wenn, wenn, wenn. Zu lange, geschwätzige Dialoge, Manierismen und sprachliche Mätzchen etc. Die Regeln des guten Schreibens sind lehrbar und sie sollen gelehrt werden. Es ist nichts mehr, nichts weniger als eine verlängerte Deutschstunde. Erst jenseits des Handwerklichen beginnt der Schöpfungsprozeß.
Im Miteinander der Autoren, aber auch der Autoren und Leser, soll es menschlich zugehen. Keiner wird a priori abgewiesen, jeder ist willkommen, sich zu präsentieren. Vereinigungen von Schriftstellern sind aber auch den gehobenen Ansprüchen der Literaturarbeit verpflichtet. Der Autor muß sich der Kritik stellen. Kommt die Geschichte gut an, sollte er sich besser nicht gegen ein Lektorat wehren, wenn ihm an einer Publikation gelegen ist (hier habe ich schon unangenehme Überraschungen erlebt). Ist der Applaus dünn, die Geschichte wird also innerlich nicht angenommen, sollte man dem Autor reinen Wein einschenken.
Noch ist nicht alles verloren, wenn der Autor schon Besseres produziert hat. Dann fehlt ihm offenbar das Gespür für das Gefälle zu minderen Leistungen. Der Fall ist recht häufig: Unter zwanzig Kurzgeschichten finden sich drei Perlen, der Rest ist Mittelmaß oder darunter. Die konstruktive Kritik wird hier versuchen, das Gespür des Autors für gute Literatur zu schärfen. Auch hier lassen sich gewisse Regeln von prägnanten Bespielen ableiten: Warum ist diese oder jene Geschichte gut?
Werde ich von einem Autor gebeten, einen noch unveröffentlichten literarischen Text zu kommentieren, ist mir nicht wohl in meiner Haut. Es läuft dann folgendes Ritual ab: Ich bitte mir aus, ehrlich antworten zu dürfen. Ich versichere, ich übe nicht einfach Kritik, sondern bemühe mich um einen Aufbau. In einer Kritik müsse die Ermunterung zum Weitermachen stecken. Ich bitte, meine Vorschläge zu Änderungen ernst zu nehmen. Schwachstellen in der Sprache müssen bereinigt werden – das tut der Originalität des Werks keinen Abbruch. Im Gegenteil! Ja, ich bekomme alle Freiheit zugesichert. Und doch, und doch… Ich weiß, was der Autor sich erhofft: ein sparsames Lob! Jede Kritik tut ein bißchen weh. Das ist halt so (H.D.P. 2009)