Mit einer flüchtigen Handbewegung strich Madame Marie Lavoisier unsichtbare Falten ihres Kleides glatt. Charmaine, ihre Gesellschaftsdame, kündigte den ersten Besucher an:
„Monsieur Jean‑Baptiste Biot, Professor für Mathematik und Physik.“ Ich weiß doch, wer er ist, dachte Madame Lavoisier amüsiert, andererseits schätzte sie die kleinen Gesten guten Benehmens von Dienstboten in adeligen Häusern:
"Nun, führe ihn herein!“
Marie erhob sich von ihrer Chaiselongue. Jean‑Baptiste Biot kam näher, er lächelte traurig, verbeugte sich und ergriff die erhobene Rechte der Madame zum Handkuß. Eine Träne fiel auf den Handschuh.
„Pardon, Madame,...“ Er wollte noch etwas sagen und schluckte, aber Marie unterbrach ihn:
„Ich weiß, ich weiß, Monsieur le Professeur.“
Sie sah ihn liebevoll an. Biot war Patriot, hatte sich freiwillig 1792 zur Armee gemeldet und den Ersten Koalitionskrieg mitgemacht. Er wurde krank, zog sich zurück, wurde verhaftet, kam frei, wurde in die École des Ponts et Chausées aufgenommen und heiratete die 16‑jährige Gabrielle Brisson, die Schwester eines Kollegen.
Inzwischen hatte sich Dominique Franҫois Arago eingefunden, nach dem Handkuß der Salonnière sich Biot zugewandt und ihn sogleich heftig umarmt. Arago war mit neunzehn Jahren der Jüngste der Gesellschaft.
„Gott sei Dank du lebst noch?“ Biot hatte vor kurzem in einem Wasserstoffballon zusammen mit Gay‑Lussac eine Höhe von 4000 Metern erreicht, wobei sie erdmagnetische Messungen durchführten.
„Natürlich lebe ich noch. Faß mich an!“
„Du weißt wie gefährlich Wasserstoff ist, mit Sauerstoff kann ein Gemisch explodieren.“
„Dominique, als wir beide unsere Messungen am Meridian in Spanien durchführten ‑ war das nicht weniger gefährlich? Mitten unter den Rebellen?“
„Jean‑Baptiste, das weiß man doch erst, wenn es schon passiert ist.“
„Wenn man tot ist. Na, ja.“
Marie Lavoisier beteiligte sich nur am Rande an den Gesprächen. Pierre‑Simon Laplace führte das große Wort. Der Mann faszinierte durch seine Eloquenz, sein Charisma, seine weitausgreifenden Ideen und seine intime Kenntnis des Königsberger Philosophen Immanuel Kant. Worüber man nicht sprach: Über die Revolution. Laplace hatte es damals nicht schlecht getroffen. Er diente ihr als politisch unbeteiligter Wissen-schaftler. Er gehörte zum Komitée für Maße und Gewichte. Er war Examinator für die Höhere Artillerie-schule. Trotzdem, unter der Schreckensherrschaft verzog er sich aus Paris und kehrte erst nach der Hinrichtung von Robespierre im Juli 1794 wieder zurück. Unter dem Direktorium setzte er seine Karriere fort, wurde Leiter des Observatoriums und des Forschungsbereichs Astronomie. Laplace scheute sich nicht, fremdes Wissen als sein eigenes auszugeben. Das machte seinen Lehrer d'Alembert stutzig, der sich wie eine Gans ausgenommen fühlte. Inzwischen war Claude-Louis Berthollet im Salon eingetroffen ‑ als Chemiker und Arzt ein Exot in der physikalisch‑mathematischen Runde, ein alter Freund von Lavoisier, nun Nachbar von Laplace in Arcueil bei Paris. Berthollet führte einen chemischen Salon, in dem auch Laplace häufig Gast war. Als letzter im Salon erschien Joseph‑Louis Lagrange, der große Mathematiker.
Laplace war der Größte. Nur unangenehm, daß er es wußte. Überflüssig war, es durchblicken zu lassen. Niemand bezweifelte in dieser Runde, daß seine Himmelsmechanik ein großer Wurf war. Dabei übersah man zuweilen, daß Laplace fest auf Newtons Schultern stand. Madame Lavoisier als Gastgeberin mußte etwas tun, als sie sah, daß Lagrange ein Gähnen unterdrückte. Sein schmales Gesicht mit der langen Nase, den herabgezogenen Mundwinkeln war ein Abbild von Trauer. Marie wandte sich abrupt an Laplace:
„Monsieur Laplace, gestatten Sie eine Frage: Sie treten – gewissermaßen – Newton's Erbe in der Mechanik und in der Astronomie an: Als begnadeter, schöpferischer Visionär. Zugegeben. Während Newton sich jedoch immer wieder auf Gott als die ordnende Instanz berief, taucht dieser Begriff bei Ihnen niemals auf.“
„Ich komme ohne ihn aus, Madame.“
„Sie sind also klüger als Newton, Monsieur?“
„Madame, zwischen Newton und mir liegen hundert Jahre. Die Ansichten ändern sich.“
„Man sagt, Gott sei ewig. Der wievielte Teil von Ewigkeit sind hundert Jahre?“
„Da fragen Sie bitte unseren Kollegen Lagrange, der ist Mathematiker.“ Lagrange war sehr wohl dem Wortwechsel gefolgt:
„Hundert Jahre sind Null Prozent von Ewigkeit, wenn man Ewigkeit als den Grenzwert unendlich einer Zahlenreihe begreift.“
„Monsieur Laplace, Ihr Argument, Gott sei nicht mehr aktuell, wird zumindest von Professor Lagrange nicht unterstützt.“
„Madame, ich zolle Ihnen meinen höchsten Respekt als Gastgeberin – aber worauf wollen Sie hinaus?“
„Gott ist Ihnen, wie mir scheint, abhanden gekommen. Ich frage mich: Ist daran die Physik oder die Revolution schuld?“
Laplace wurde blaß: Heute war der 8. Mai 1804. Genau vor zehn Jahren endete Lavoisiers Leben unter der Guillotine. Lagrange ergriff das Wort:
„Gott – ja oder nein. Unter uns fehlt heute ein Freund, und den hat uns ganz gewiß die Revolution genommen. “ In seine Stimme mischte sich ein drohender Unterton: „Monsieur Laplace, erzählen Sie mir nicht, es war Robespierre – er war nur das Medusenhaupt der Revolution…“
„Mein Gott, entrang sich Berthollets Brust ein Seufzer, "der Schrecken ist doch längst vorbei. Seien wir froh, daß eine neue Zukunft winkt... “
Er und Laplace hatten im Senat für die Wahl Napoleon Bonapartes zum Kaiser gestimmt. Im guten Glauben, natürlich. Es war eben Schicksal, daß sie beide bald zu den reichen Leuten in Paris zählten. Laplace wollte nur noch einen guten Abgang:
„Madame Lavoisier, ich war ein Freund Ihres Mannes. Wir hatten zusammen die Versuche am Eiskalorimeter durchgeführt und die Zusammensetzung des Wassers aufgeklärt.“
Bevor man Lavoisier zum Schaffott karrte, sperrte man Marie in die Concièrge. Das Vermögen wurde konfisziert. Sie hatte sich seinerzeit autodidaktisch die Chemie beigebracht, schon als junges Mädchen an Lavoisiers Seite gestanden. Sie bereitete die Experimente vor, protokollierte die Ergebnisse, nahm an Diskussionen teil. Da gab es ein schier unlösbares Paradoxon: Verbrannten Metalle zu Kalk – das Wort Oxyd gab es noch nicht – so wog die Asche mehr als das Metall. Das paßte nicht zu der Vorstellung, daß die postulierte Substanz Phlogiston, eine Art Wärme, während der Verbrennung entwich – dazu müßte sie ein negatives Gewicht haben. Das war Unsinn. Es blieb nur der kühne Schluß: Für die Gewichtszunahme der Asche war der Sauerstoff aus der Luft verantwortlich. Das Phlogiston wurde zur Legende eines wissenschaftlichen Irrtums.
Hatte Lavoisier Freunde? Vermutlich wenige. Nicht einmal Jaque Alexandre César Charles war eigentlich ein Freund – der Chemieprofessor, der erstmals in einem Wasserstoffballon über Paris schwebte. Trotzdem hatte sich jener in die Höhle des Löwen gewagt. Robespierre hauste schlicht in einem Zimmer bei der Tischlerfamilie Duplay in der Rue Saint-Honoré. Lavoisier sei der größte Chemiker Frankreichs! Robespierres Entgegnung war kurz und bündig:
„Nicht den Wissenschaftler richten wir hin, sondern den Steuerpächter Lavoisier, einen Blutsauger des Volkes…“
John D. Wolfringer (2014)
Anmerkung: Der geschilderte Abend ist Fiktion, nicht aber der Salon selbst. Auch die Besucher haben existiert, sich gekannt und gelegentlich getroffen. Die Schicksale von Lavoisier und seiner Frau sind authentisch. Jaque A. C. Charles hat tatsächlich bei Robespierre interveniert, um Lavoisier zu retten. Vergeblich. Und kein ungefährlicher Schritt: Charles kannte Danton, den Revolutionär der ersten Stunde. Er hatte seinerzeit auf Wunsch von Charles diesem Lehrbücher über Chemie aus Deutschland besorgt. Im April des Jahres wurde Danton hingerichtet. Robespierre führte akkurat eine Liste von Dantons Freunden. Höflich komplimentierte er den Professor Charles hinaus…